Der Wahlabend im öffentlich-rechtlichen Illusionstheater

Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich große Ausdauer zeige. Wahlabende und die Berichterstattung von der ersten Prognose bis zur letzten Hochrechnung gehören dazu. Gestern währte meine Ausdauer bis gegen 23.30 Uhr, als die erste Prognose zum Ergebnis aus Italien hereinkam. Das ist auch der letzte Informationsstand, der dem folgenden Text zugrunde liegt. Was sich im Detail noch geändert hat, sehe ich mir später an.

Die Berichterstattung in ARD und ZDF war sicherlich, wie immer, aktuell. Man hat auch diesmal wieder weder Kosten noch Mühen gescheut, um schnellstmöglich die bestmöglichen Informationen  über den Ausgang der Wahlen und die frischesten Reaktionen der Parteien auf die sich abzeichnende Situation aus Gewinnen und Verlusten einzufangen. Kontraste, wie sie uns zwischen der angezählt im Ring liegenden SPD einerseits und dem Siegestaumel in der grünen Hüpfburg vorgeführt wurden, gab es in der Wahl-Geschichte der Bundesrepublik selten, und dennoch erschien alles sonderbar unwirklich, wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht.

Phasenweise enststand der Eindruck, es sei nicht darum gegangen, 751 Vertreter aus 28 Staaten nach Brüssel zu schicken, sondern um die Frage, wer von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat in dieser Woche vom EU-Parlament zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa gewählt werden würde. Wobei als einziger Kandidat Emmanuel Macron überhaupt infrage gekommen wäre.

Phasenweise entstand der Eindruck, das neu gewählte Parlament werde die Politik der EU in den nächsten fünf Jahren maßgeblich bestimmen und Brüssel bunter, grüner und jünger machen als es je zuvor war.

Phasenweise entstand der Eindruck, Manfred Weber, Frans Timmermans und Margrethe Vestager seien nun  – jeder auf eigene Faust – damit beschäftigt, in Koalitionsverhandlungen einzutreten, um eine Regierungskoalition zu schmieden.

Phasenweise wurde vom Spitzenkandidaten-Modell gesprochen, als sei  es in den Verträgen von Lissabon verewigt und für den Rat gäbe es gar keine andere Möglichkeit, als Weber vorzugschlagen, weil die EVP  wieder die stärkste Fraktion geworden sei, oder Timmermans vorzuschlagen, weil die Sozialisten und Sozialdemokraten eine Mehrheit gegen die EVP organisieren könnten, oder eben Frau Verstagen, weil die Liberalen im neuen Parlament  schließlich das Zünglein an der Waage darstellen würden.

Alle diese  phantastischen Geschichten dürften dazu beitragen, dass die Wähler, die diesmal in größerer Zahl denn je bei EU-Wahlen mitgestimmt haben, in dem Gefühl bestärkt werden, sie hätten im Rahmen der gegebenen demokratischen Möglichkeiten das Richtige getan und die EU unter Umgehung des Rangierbahnhofs direkt auf ein neues Gleis gehoben.

Nichts von alledem  ist  „real“.

Im Europäischen Rat sitzen immer noch und weiterhin die gleichen Figuren wie vor der Wahl und haben keine andere Chance, als sich an der  Linie der Kompromisse, die sie schon eingegangen sind, weiter in die Zukunft zu hangeln und auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer nationalen Interessen  ihre innen- und außenpolitischen Ziele und Maßnahmen zu vereinbaren.

Dabei ist es egal, dass die Franzosen sich in der EU-Wahl eher für Le Pen entschieden haben, als für Macron. Seine Stimme im Rat zählt vollkommen unverändert weiter, solange er Präsdent bleibt – und für alle anderen gilt dies ganz genauso. Es ist egal, dass die GroKo in Deutschland massiv abgestraft wurde, Merkel hat im Rat kein Gramm an politischem Gewicht verloren. Dies bedeutet: Eine Änderung des Kurses der EU ist nur zu erwarten, wenn sich die personelle Zusammensetzung des Europäischen Rates verändet, weil in den Mitgliedsländern andere Parteikonstellationen die Regierung übernehmen.

Das Illusionstheater wird noch einige Wochen lang aufgeführt werden, bis der Rat den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorgeschlagen hat, der vom Parlament akzeptiert wird. Danach war es das, mit den Auswirkungen der Wahl zum EU-Parlament.

Allerdings hat der Ausgang dieser Wahl doch auch andere Erkenntnisse mit sich gebracht, die für die politischen Parteien der Mitgliedsländer von Bedeutung sind und durchaus Reaktionen zur Folge haben könnten. Auf dem Stand von gestern Abend 23.30 Uhr, der im öffentlich rechtlichen Fernsehen im Wesentlichen das deutschen Wahlergebnis zeigte, ist eines klar geworden: Die GroKo hat massiv an Zustimmung verloren, und das über Deutschland hinaus auch im EU-Parlament.

Abgewatscht wie nie zuvor hat die SPD den Wahlabend mehr tot als lebendig überstanden. Auch wenn Andrea Nahles sagte: „Wir nehmen die Herausforderung an“, ist von den Genossen tatsächlich nichts mehr zu erwarten. Gäbe es am nächsten Sonntag  Bundestagswahlen in Deutschland, die SPD wäre auch da mit unter 20% der klare Verlierer.

Die Union, die ebenfalls massiv Stimmen verloren hat, was die CSU, die mit dem Weber-Bonus gewonnen hat, unter dem Strich längst nicht ausgleichen konnte, verleitet zum Vergleich mit den im Klimawandel schmelzenden Eisbergen. Der große Eisberg Union braucht eben länger, bis er sich aufgelöst hat, als der kleinere Eisberg SPD.

Womit wir bei den Gewinnern  der Wahlen zum EU-Parlament angekommen sind. Gewonnen haben in Deutschland Greta und Rezo. Greta hat die Stimmung angeheizt, den Boden bereitet – und Rezo hat mit seinem CDU-Vernichtungs-Video für die Mobilisierung der Jüngeren und damit für das grandiose Ergebnis der Grünen  gesorgt.

Die wahren Ursachen dafür, dass die Grünen derart durchstarten konnten, liegen jedoch sehr viel tiefer und schon lange zurück. Die Bilder von Angela Merkel vor dem schmelzenden Eispanzer der Arktis drängen sich mir auf. Das war zwar nicht der Beginn, aber ein Meilenstein in einer politischen Agenda, die zur Durchsetzung globalistischer Ziele, mit Unterstützung der UN und einer Abfolge von Klimakonferenzen mit stetig steigender Dringlichkeit, die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung verdeutlichen sollte. Die China dabei gewährten Zugeständnisse waren schon immer ein Pferdefuß im Konzept der ernsten Besorgnis, doch China schien immer noch weit genug weg zu sein, um das Maß des Zweifels und der Empörung klein halten zu können. Mit Donald Trump, der den globalistischen Pfad verlassen und das Klimaabkommen von Paris seitens der USA aufgekündigt hat, ist jene kalkuliert aufgebaute Bedrohung jedoch in helle Panik umgeschlagen.

Auf einmal waren es nicht mehr die Klimakanzlerin und ihre sozialdemokratischen Anhängsel, die im Kampf gegen den Klimawandel die Speerspitze bildeten und die höchste Alarmstufe ausriefen. Die hatten fürwahr anderes zu tun, um sich im weltweiten Wirtschaftskrieg zu positionieren. Da aber der Ausstieg der USA als massive Steigerung der Bedrohung wahrgenommen wurde, dem eben nicht eine massive Beschleunigung der Dekarbonisierung folgte, sondern nur weit in die Zukunft weisende Zielsetzungen, von denen durchaus vor Erreichen auch wieder Abschied genommen werden könnte, sind Union und SPD, die eben nicht nur die besseren Grünen sein wollten, sondern mit Rückenwind der Grünen einen weiteren Schritt zur Weltregierung zurücklegen wollten, von der  eigenen Erzählung eingeholt und überrollt worden.

Es ist nun nicht verwunderlich, dass Frau von der Leyen gestern Abend, wo auch immer ihr ein Mikrofon hingehalten wurde, beteuerte, die eigenen Themen seinen nicht angekommen und man habe bei Umweltschutz und Klima tatsächlich (Wahlkampf-) Versäumnisse einzuräumen. Es ist aber ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass dem mehrfach – auch von anderen – nachgeschoben wurde, es sei eben schwer zu erklären, dass die Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wirtschaft eine schwierige Aufgabe sei.

Meines Erachtens war es ein großer Fehler der deutschen Regierungsparteien, praktisch im Einklang mit den Grünen, jedoch mit reduzierten Zielvorstellungen und längeren Fristen, auf ein eigenes Klimapferd aufzusteigen, nur um auf der Galopprennbahn der Klimahysterie mit eingelegter Handbremse abgeschlagen und unter „ferner liefen“ die Ziellinie zu erreichen. Das „Anwanzen“ an die fridays for future Bewegung wurde weder von den eher konservativen Wählern, noch von den potentiell grünen Wählern goutiert. Die einen fanden es schrecklich, die anderen unglaubwürdig – und das Wahlergebnis ist die verdiente  Quittung.

Politisch wird das in Deutschland wohl kaum gravierende Folgen haben. Ob Andrea Nahles Parteivorsitzende der SPD bleibt, oder nicht, spielt keine Rolle. So sehr auch die „Halbzeitbilanz“ der GroKo einst als Sollbruchstelle der Koalition konstruiert wurde – die SPD wird alles tun, um sich über die zweite Hälfte der Legislatur zu retten und selbst dann noch  wird die Angst vor den Wahlen stärker sein als  der Wille, mit eigener, eigenständiger Programmatik beim Wähler zu punkten.

Angela  Merkel, auch wenn sie mit dem Gedanken gespielt haben sollte, das Kanzleramt jetzt zu räumen, kann gar nicht anders als im Amt zu bleiben, um Deutschlands Stimme im Rat mit der restlichen Kraft der Union zu vertreten und einem unberechenbaren, da angeschlagenen Macron, unter  Kontrolle zu halten. Selbst das Amt des Kommissionspräsidenten, das Juncker ihr recht deutlich angetragen hat, kann sie nicht anstreben, da die Gefahr, vom Parlament abgeleht zu werden, viel zu groß ist. Gegen Merkel  stünde  da nämlich nicht nur der stark gewordene  rechte Flügel  der Abgeordneten, sondern ebenso die EU-Grünen, die EU-Liberalen, die EU-Linken und sogar Teile der eigenen EVP-Fraktion.

Dass die Grünen in Bremen zum einzigen Mehrheitsbeschaffer aufgestiegen sind, ist bundespolitisch ebenfalls zweitrangig. Egal, ob es im Stadtstaat zu rot-rot-grün  oder zu Jamaika kommen sollte, Bremen wird nach ein paar Wochen wieder genauso in der bundesdeutschen Bedeutungslosigkeit versinken, wie in den Jahren seit den letzten Wahlen.

So fallen die aufgeblasenen Illusionen des Wahlabends schnell wieder in sich zusammen.

Übrig bleiben die beiden nicht deckungsgleichen Realitäten, nämlich die faktische Realität eines Deutschlands, das aufgrund seiner Exportlastigkeit von dem Tsunami, den Trump im Welthandel ausgelöst hat, schwer getroffen wird und aufgrund seiner Energiepolitik unaufhaltsam auf den ersten großen Blackout seiner Geschichte zutreibt. Ein Deutschland in dem die soziale Gerechtigkeit trotz aller weißen Salbe immer brüchiger wird, in dem der Kampf gegen die Clankriminalität immer noch in den Kinderschuhen steckt, indem die Übergriffe linksextremistischer Kräfte immer unbekümmerter vorgetragen werden und von einer geordneten Migrationspolitik nach wie vor keine Rede sein kann.

Daneben die Realität der politischen Parteien, die – so die Kommentare von gestern Abend – die Grünen immer weniger als politischen Gegner betrachten, sondern als potentiellen  Koalitionspartner, mit dessen Hilfe das eigene Überleben gesichert werden soll. Das trifft  auf die Union zu, es trifft auf die SPD zu, es trifft auch die LINKE zu, es trifft auf die FDP zu. Damit wird der menschengemachte Klimawandels  ebenso politische Realtität bleiben wie die gesicherte Erkenntnis, ein Prozent der Weltbevölkerung sei in der Lage, durch CO2-Verzicht  das Weltklima zu retten.

Was vor zwei Jahren noch nicht gelungen ist, Jamaika im Bund, wird dadurch wahrscheinlicher, denn bis dahin wird es kaum gelingen die Grünen zu entzaubern und die mächtigen, angstvollen Emotionen der Jugend, die bereist auf ihre Eltern und Großeltern übergegriffen haben, durch vernünftige Argumente zu beruhigen.

Ein Wort noch zu den erstarkten Rechten im EU-Parlament. Die Politik der absoluten Ausgrenzung – wie in Deutschland praktiziert – wird sich im EU-Parlament in leicht abgeschwächter Form wiederfinden – und eine Mehrheit gegen Salvinis Koalition wird sich immer finden lassen. Die Ibiza-Affäre hat zwar weit weniger Wirkung gezeigt als erwartet wurde, die Illusion, die EU von innen her auf dem Weg über das Parlament reformieren und die Zielrichtung ändern zu können, weg von den Vereinigten Staaten von Europa, hin zu einem einigen Europa der Nationen, die mit zum Wahlerfolg beigetragen hat, wird sich aber ebenfalls in Luft auflösen, wenn die Parlamentarier feststellen, dass sie weder ein Initiativrecht haben, noch die geringste Chance, Pläne der Kommission zu torpendieren, wenn diese das nicht will. So, wie die Kommission keine Chance hat, sich durchzusetzen, wenn der Rat das nicht will, und der versammelte Rat keine Chance hat, wenn Macron und Merkel sich einig sind.