… auch nur mit Wasser

Elmar Brok, ein über Jahrzehnte im Irrgarten der EU-Institutionen sozialisierter und dabei womöglich geistig längst petrifizierter älterer Herr, hat erklärt, im Vorfeld der Bestimmung des nächsten Kommissionspräsidenten, habe das Parlament versagt.

Hinter dieser Aussage, die selbstverständlich von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, verbirgt sich jedoch die Suggestion einer Unwahrheit, die – wiewohl nicht neu – so doch im Neusprech als den „Fake News“ zugehörig  angesehen werden muss.

Es ist zwar um diese EU-Wahl und um die Bestimmung des Kommissionspräsidenten bereits so viel Quatsch erzählt worden, dass es darauf im Grunde auch nicht mehr ankäme, doch ist die Versuchung, gerade hier einzuhaken, besonders groß, macht es doch einen Seitenhieb auf den großen selbstgefälligen Elmar möglich.

Elmar glaubt nämlich, das Parlament hätte den Rat mit der Nominierung eines eigenen Kandidaten und der Drohung, keinen anderen zu wählen, erpressen müssen. (hier)

Beginnen wir bei der Beleuchtung der Szenerie damit, dass wir den Spot auf das hier eingeschmuggelte Verb „wählen“ lenken.

Das Parlament kann weder einen Kommissionspräsidenten vorschlagen, noch einen wählen.

Dieses „Parlament“ hat einzig die Chance, den Vorschlag des Europäischen Rates abzunicken – und damit zu erkennen zu geben, dass die einzelnen Fraktionen bei dem im Vorfeld abgesprochenen Kuhhandel, die weiteren Posten und Pfründen betreffend, sich gegenseitig kein weiteres Auge aushacken werden.

Nur wenn beim vorangegangenen Kuhhandel keine Einigkeit erzielt werden konnte, wird der vom Rat vorgeschlagene Kommissionspräsident keine Mehrheit erhalten. Das gilt sowohl für diese „Probe-Abstimmung“, die heute Abend stattfinden wird, als auch für die endgültige Abstimmung über die Kommission samt Präsident als Ganzes, die für den Oktober terminiert ist.

Dem Parlament, dessen politische Kompetenz sich tatsächlich darin erschöpft, in einem einmaligen Akt zu Beginn einer fünfjährigen Sitzungsperiode die Kommission als Ganzes ablehnen zu dürfen, Versagen vorzuwerfen, ist hirnrissig.

Das EU-Parlament, bestehend aus national gewählten Abgeordneten, die sich in überstaatlichen Fraktionen zusammengeschlossen haben, ist doch nicht der Träger eines einheitlichen Willens, sondern allenfalls das Gefäß, innerhalb dessen die Meinung und der Wille einer Mehrheit zum Ausdruck gebracht werden kann – sofern es eine solche Mehrheitsmeinung und einen solchen Mehrheitswillen denn gibt.

So ist das Parlament zunächst einmal ein Spiegelbild der Uneinigkeit jener Wahlberechtigten, die sich an den Wahlen zum EU-Parlament beteiligt haben. Dass einigen davon von ihren nationalen Politikern vorgetäuscht wurde, mit der Wahlentscheidung für die nationalen Kandidaten falle zugleich die Entscheidung für den Kommissionspräsidenten, gehört nicht mehr in den Bereich der Meinungsfreiheit, sondern stellt, sieht man von der Naivität ab, mit der ein Wunsch erst zum Vater des Gedankens und dann zur Stütze der Falschbehauptung gemacht werden konnte, einen glatten Wählerbetrug dar.

Die Wahlberechtigten haben ein EU-Parlament zusammengewählt, das in seiner Inhomogenität so unterschiedliche, widersprüchliche und sich gegenseitig ausschließende Ansprüche an jene Damen und Herren stellt, die im Hinterzimmer des Rates mit der Ausgestaltung des Kuhhandels beschäftigt sind, dass die gleichzeitige Befriedigung dieser Wünsche unmöglich ist.

Weber und Timmermans als Kontrahenten aus der Spitzenkandidatenkür mussten abserviert werden, um überhaupt einen Blick auf den wahren Frontverlauf zwischen den Fraktionen werfen zu können, und Ursula von der Leyen wurde als Versuchskaninchen in den Korb des Ballons gesetzt, den man über der Front aufsteigen lassen wollte, um zu sehen, wer von welcher Seite mit welchen Geschützen das Feuer eröffnen – und ob sich außer der EVP  jemand finden würde, der sich mit einem Sperrfeuer für die Rettung des Versuchskaninchens einsetzen würde.

Wie wir es von der Bundeswehr gewohnt sind, ist von der Leyens Ballon so stark gepanzert, dass er selbst heftigstem Beschuss standhalten kann, was nur den kleinen Nachteil mit sich bringt,  dass das Gewicht der Panzerung einen Aufstieg nicht mehr zulässt, auch wenn noch so viel heiße Luft in die stählerne Hülle gepresst wird.

Nun, von der Leyens Verdienst ist es, mit ihrem mutigen Einsatz die Frontlinien erkennbar gemacht zu haben. Da sie dabei jedoch keinen Zentimeter über den Boden erhoben wurde, kann sie auch nicht fallengelassen werden. Daher hat sie in einem Anflug von Verzweiflung die für die Dramatik notwendige Fallhöhe durch die Ankündigung des Rücktritts vom Amt des Verteidigungsministers selbst hergestellt – und damit eigentlich nur signalisiert, dass sie sich selbst keine Chance mehr ausrechnet, es sei denn, es gelingt ihr noch, Mitleidsstimmen zu generieren. Ein Schuss, der m.E. nur nach hinten losgehen kann. Wer – außer Angela Merkel vielleicht – kann sich der klammheimlichen Freude schon erwehren, die Fehlbesetzung an der Spitze des Verteidigungsministeriums ganz ohne eigenes Zutun beenden zu können.

Dass von Seiten der Rechtskonservativen im EU-Parlament lautstark verkündet wird, man werde UvdL wählen (in geheimer Wahl!), ist ein weiterer Nagel am Sarg der politisch früh Verstorbenen. Es ist doch undenkbar, dass ausgerechnet Orbans Leute eine stramme Merkelistin zum Kommissionspräsidenten machen werden. Doch wenn sie behaupten, sie würden sie wählen, und sie sollte tatsächlich die Mehrheit der Stimmen bekommen, so hat man doch wenigstens erfolgreich die Saat der Zwietracht unter jenen ausgebracht, die sie tatsächlich gewählt haben, weil die Mehrheit in Anbetracht der Unterstützung von rechts viel zu gering ausgefallen ist. Und wird sie nicht gewählt, dann ist sowieso  alles gut.

Das Parlament hat nicht versagt, Herr Brok.

Das Parlament, jenes Feigenblatt vor der demokratischen Blöße der EU, das sogar seinen eigenen Parlamentspräsidenten in der Kungelei um Posten und Pöstchen vom Rat (mit-) bestimmen lässt, statt ihn einfach unter Tagesordnungspunkt 1 seiner konstituierenden Sitzung selbst zu wählen, kann ebenso wenig versagen, wie ein schwer gepanzerter Heißluftballon fliegen kann.

Was versagt, das ist die Institution EU selbst, weil mit den Jahren immer deutlicher wird, dass ihre Konstruktion einem Exo-Skelett gleicht, das jedoch hohl und leer im Raume steht, weil niemand da ist, der es wirklich ausfüllen könnte, sondern nur eine Horde von Pygmäen (danke, Franz Josef Strauß), die sich darum streiten, wer wann und wie oft welches Hebelchen bewegen darf.

Es ist, im Gegenteil, diesem Parlamente hoch anzurechnen, dass es das Mäntelchen des schönen Scheins ablegt und damit den Blick freigibt, auf die Defizite und Unvollkommenheiten dieser EU, auf ihre Irrtümer und Widersprüche, statt einfach weiter stillschweigend Sitze plattzudrücken und Diäten einzusacken.

Es ist, also hätten die Parlamentarier gelernt, angstfrei und sicher übers tiefe Wasser zu gehen.

Doch auch im EU-Parlament kocht man eben – von außergewöhlichen Ausnahmesituationen abgesehen – nur mit Wasser, statt übers Wasser zu gehen, so dass es mich nicht verwundern würde, wenn die Weiterarbeit am Kuhhandel bis heute Abend, 18.00 Uhr, so weit gediehen sein sollte, dass die vor dem Rücktritt stehende deutsche Verteidigungsministerin sich ab dann ganz auf die Bildung ihrer Kommission konzentrieren könnte.